BESPRECHUNGEN

Tallis Scholars: Josquins Messen „Sine nomine“ und „Ad fugam“. Mit ihrer dritten CD-Einspielung mit Josquin-Messen haben die Tallis Scholars nun eine im Rahmen der neueren Interpretationspraxis ein klaffende Lücke gefüllt. Beide Messen sind konsequente Kanonmessen. Die wohl in den 1480er Jahren entstandene Missa „ad Fugam“ ist nach der Aufsehen erregenden Analyse von Gösta Neuwirth zumindest im deutschen Sprachraum ein bekanntes Werk und nun gibt es endlich auch eine ausgezeichnete Einspielung dieser Messe. Nach der Analyse von Neuwirth zeigt das Zählen von Noten der musikalischen Abschnitte, wenn deren Summen horizontal, vertikal oder diagonal addiert werden ein erstaunliches Geflecht von Zahlenbezügen, woraus auf eine zahlensymbolische Ebene geschlossen werden kann. Von solcher Rechnung ist allerdings wenig zu hören und die Messe klingt angesichts solcher Konstruktion überraschend selbstverständlich. Während als Bezugspunkt dieser Messe häufig Ockeghem genannt wurde, zeigt die Messe in Melodie- und Harmonieorganisation und Rhythmik deutliche Anleihen an die Messmusik von Busnoys, insbesondere an dessen berühmte „L`homme armee“- Messe. Das macht sich in den der kräftigen, grundtonlastigen Basstimme ebenso bemerkbar wie an den Kadenzen, die zu großen Teilen dem Busnoys’schen Vokabular zu entstammen scheinen. Auch das wiederkehrende Kopfmotiv und die nachfolgenden Takte sind offenbar dem Credo der Busnoys-Messe entnommen. Bei der Missa „Ad fugam“ wird von dem meisten angenommen, dass es sich um eine frühe Messe Josquins handelt. Die Nähe zu der Kirchenmusik von Busnoys verweist auf einen möglicherweise stärkeren Einfluss von Busnois auf Josquin in dessen früher Laufbahn, ein Einfluss der im fortgeschrittenen Satzverlauf immer mehr dem Josquinstil mit seinen weichen Harmonien Platz schafft. Besonders interessant ist an dieser Aufnahme, dass die Sätze „Sanctus“ und „Agnus Dei“ doppelt erscheinen: einmal in einer jeweils langen Version, und dann in einer späteren Version, die gut auch auf Josquin zurückgehen könnte. Die späteren Versionen zeigen mit ihrer größeren Prägnanz und Rundung Merkmale seines Reifestils.

Die andere Messe auf der CD, die späte Missa „Sine nomine“ (wohl um 1510) hat lange in der Josquin-Rezeption eher ein Schattendasein geführt. Dabei braucht kann dieses Werk den Vergleich mit heute viel berühmteren Spätwerken wie der Missa „Panga lingua“ und der Missa „de Beata Virgine“ nicht zu scheuen. In Harmoniebehandlung, der Neigung zu manchmal exzessiver Wiederholung und Sequenzierung, so wie in der dabei insgesamt doch sparsamen Ökonomie der Mittel zeigt die zeitliche Nähe zur Panga Lingua Messe. Die Kanonhandhabung ist gegenüber der Missa „Ad fugam“ freier, aber auch virtuoser und phantasievoller. Besonders auffällig ist die über weite Strecken unberechenbare Melodik und die rhythmisch oft spannungsvolle Kontrapunktik. Gegenüber der „Panga lingua“ Messe tritt weniger der melodische Verlauf der Einzelstimme im Vordergrund, sondern mehr der bisweilen expressiv verkantete Fluss des Simmverbandes. Auch die Textdeklamation ist im Gloria und im Credo sehr dynamisch und flüssig gehalten und läuft jeweils auf eine grandiose Schlusssteigerung zu. Die Melodik ist reich an Pendelmotiven und das Linienspiel zeigt oft auseinanderfallende Akzente. Diese stilistischen Merkmale erscheinen ebenso als Remineszens an Ockeghem, wie die an die Missa „Prolationum“ erinnernde Kanontechnik und eine Passage im Credo, wo Josquin seine eigene Totenklage auf den älteren Meister zitiert. Auch finden sich in der Messe selbst einige Details, die wie Zitate oder Anspielungen an auffällige Motive aus Ockeghemmessen klingen. Diese Elemente sind dabei in das unverwechselbare Stilgefühl Josquins eingeschmolzen, die häufigere Wiederholung, die größere Weichheit, Leichtigkeit und Helle des Klangs. Deutlicher als in den anderen späten Messen Josquins finden wir in einer Tendenz zur durchrhythmisierten Satzeinheit auch bereits Anklänge an den monumentalen Fluss, der die nachfolgende Generation um Nicolas Gombert bestimmen wird. Besonders schön ist auch das in langsamen Wellen ausschwingende Agnus Dei.

Die Interpretation der Tallis Scholars ist wie gewohnt treffend in Tempowahl, figurativer Darstellung und von einem ausgewogenen Verhältnis von Stimmentransparenz und Klangfülle, bei einer sehr kernigen, die Expressivität der Struktur betonenden Darbietung. Diese Aufnahme ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Josquininterpretation.

Friedrich Hausen
s. auch neue Cds

Ockeghem Missa Cujusvis toni, Ensemble Musica Nova

Die Missa Cujusvis toni ist ein bekanntes Beispiel für Ockeghems Neigung zu herausfordernden Konzepten für die Komposition. Die Tatsache, dass sie ohne Schlüssel notiert ist, ermöglicht verschiedene Varianten, wobei sich jeweils Klangfarben und Ausdrucksqualitäten verändern. Dass es sich wohl die beliebteste Messe Ockeghems handelte, lag dabei gewiß nicht nur an der konzeptuellen Seite, sondern wohl auch an der melodischen Qualitäten des Werkes und einer zukunftsweisend textnahen musikalischen Rethorik vor allem der textreichen Sätze und der bei allem Abwechslungsreichtum recht homogenen Harmonik. Die Missa „cujusvis toni“ zählt wohl zu den spätesten vollständigen Messen Ockeghems und ist in den 1470er Jahren oder später entstanden. Die neue Aufnahme von dem französischen Ensemble Musica Nova zeigt die Messe in vier Kirchentönen, und zwar in einer Weise, die darauf zu zielen scheint, dass die Versionen möglichst weit voneinander differieren. Die Deutung der „Cujusvis toni“ als einer Messe, die in vier verschiedene Versionen ergibt, ist nicht unkontrovers. Clemens Goldberg hat dafür argumentiert, dass die Beachtung von Kontrapunktregeln zur Vermeidung von verminderten Quinten oder übermäßigen Quarten die Kirchentöne auf zwei reduziert, indem Dorisch als transponiertes phrygisch, und lydisch als transponiertes mixolydisch erscheint. Gérard Geay, künstlerischer Leiter der Aufnahme hingegen, verweist auf eine mit diesen Regeln nicht immer kohärent gehende Musizierpraxis im 15. Jahrhundert und lässt offenbar manche Tritunusgänge gelten. Hier ist nicht der Ort, auf dieses Problem ausführlich einzugehen. Dem Höreindruck folgend, ergeben sich zwischen einer dorischen und einer phrygischen Variante größere Unterschiede, als zwischen der Lydischen und der mixolydischen. Dabei überzeugt die Aufnahme musikalisch nicht immer auf Anhieb, besonders auch, was die akzidentielle Vorzeichenwahl betrifft. Die Interpretation scheint weniger als diejenige der Clerk`s Group um harmonisch-figurative Prägnanz bemüht. Dafür gewinnt die Musik einen offeneren und freieren Charakter. Auch kann die Interpretation bei vermehrtem Durchhören hinsichtlich ihrer Kohärenz und Durchdachtheit überzeugen. Eine besondere Stärke betrifft die Berücksichtung sowohl monumentaler Qualitäten des Satzes als auch der Eleganz der Stimmführung. Dabei vermittelt sich überdies eine ungewöhnliche Hörerfahrung, worin der Hörer eine immer deutlichere Idee gewinnen kann von der sonderbar schwer greifbaren, zwischen den Kirchentönen schwebenden Einheit dieser Messe. Trotz der überwiegend langsamen und zurückhaltend weichen Singweise des Ensembles entfaltet die Musik oft eine machvolle Expressivität. Besonders die Steigerungen an den Satzenden der mollnahen Versionen der Messe sind von einer in Ockegheminterpretationen selten erreichten Klangfülle und Energie. Auch macht diese Aufnahme einen ästhetisch interessanten Aspekt des „cujusvis-toni“-Konzeptes erlebbar: Wohl um musikalische Qualitäten unabhängiger von den konkreten Kirchentönen zu machen, hat Ockeghem mit besonderer Aufmerksamkeit die Strukturqualitäten behandelt und eine offene und relativ tonartunabhängige Dramaturgie erarbeitet, die sich in den jeweils unterschiedlichen Kirchentönen anders vervollständigt. Die oft parallenreichen, rhythmisch komplexen Schlussabschnitte sind dabei in jeder Version Höhepunkte und verändern am deutlichsten ihre Farbcharaktäre.

Die Aufnahme wirft einige Fragen auf. Musikalisch schwer zugängliche Partien entstehen oft durch eine rigorose Beanspruchung der Eigenarten jeweiligen Kirchentons (vor allem der h/b – Kippe (h aufwärts, b abwärts), die bei jedem Kirchenton auf einer anderen Stufe liegt). Dieser Umstand könnte die Annahme stärken, dass Ockeghem doch nur zwei Kirchentonarten intendierte, oder zumindest eine nur marginale Abweichung zwischen den jeweils ähnlichen Kirchentönen. Aber ganz unabhängig von den Fragen nach der wirklichen Intention Ockeghems ist diese Aufnahme ein spannendes Klangdokument, das in seinem Ausloten verschiedener Klangqualitäten vor allem auch für Komponisten sehr inspirierend sein dürfte. Sie ist konsequent darin, dass sie eine weit verbreitete Lesart des Mess-Konzeptes beim Wort nimmt und legt ein ebenso musikalisch intensives wie diskussionswürdiges Ergebnis vor.

Friedrich Hausen
s. auch neue Cds

Johannes Ockeghem, Missa Caput
graindelavoix
Glossa GCDP32101

Unter den Messen Ockeghems steht die klanglich äußerst ungewöhnliche Missa “Caput” (ca. 1450) in dem Ruf eines noch unreifen Werkes. Spätere Schöpfungen des Meisters zeigen differenziertere Mittel, und stellen den Interpreten vielleicht nicht vor so große Rätsel. Die Musiker scheinen hinsichtlich der Bewertung dieser wohl frühesten erhaltenen Messkomposition von Ockeghem anderer Meinung zu sein. Gerade die Missa Caput ist mit CD- Einspielungen vertreten, die zu den überzeugendsten Ockeghem-Interpretationen zählen. Ein ausgezeichntes Beispiel ist die neue Aufnahme von Björn Schmelzer mit dem Ensemble Graindelavoix. Sie stellt einen wegweisenden Vorstoß zu einer anderen Art historischer Aufführungspraxis dar. Man könnte das hermeneutische Konzept wie folgt beschreiben: Man weiß wenig über die Aufführungspraxis des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Musik steht in dieser Zeit in vielen Mitteln noch am Anfang. Also kann vielleicht die authentischste Aufführung erreicht werden, wenn so weit als möglich verbildete ästhetische Vorurteile zurückgewiesen werden, und stattdessen mehr einer ursprünglichen Musikalität vertraut. Das Ensemble “Graindelavoix” ist aus Sängern verschiedener musikalischer Stile zusammengesetzt, besteht unter anderem aus Ethnomusikern und klassisch ausgebildeten Sängern.Warum auch sollte man davon ausgehen, daß im 15. Jahrhundert alle Sänger ihre Stimmen nach der Operntradition geübt hätten? Die Sänger haben weiter die Anweisung, nicht zu sehr auf die anderen Stimmen zu hören, eine künstliche Homogenität zu bewirken, sondern sich ganz darauf zu konzentrieren, die eingene Stimme auszusingen. Dabei sind freiimprovisierte Verzierungen erlaubt. Der Sänger kann auch seine Stimme in unterschiedlicher Weise einsetzen, kehlig, voll, nasal – die Veränderung der Klangfarbe erschließt eine Dimension individueller Ausdrucksfindung, und trägt zur Intensität und Organik des Gesamtklangs bei. Dabei nutzt das Ensemble auch den Klangkörper einer gotischen Kirche. Bei der Aufnahme sind die Mikrophone weit genug von den Sängern entfernt positioniert, daß der Raum das Seine zum Resultät beiträgt, und symphonische Klangmischungen entstehen, die der Musik räumlichen Charakter verleihen. Die Messätze sind jeweils von ebenso frei interpretierten Chorälen umrahmt.
Insgesamt mag der Interpretation etwas von der Vornehmheit und gestischen Anmut fehlen, die Ockeghems Kompositionen eigen ist. Dennoch stellt diese Aufnahme in ihrer pulsierenden Klangfülle, ihrer überzeugenden Musikalität und emotionalen Geladenheit vielleicht eine der beeindruckendsten Einspielungen alter Kirchenmusik dar. Während gerade bei Ockeghem Aufführungen oft maniriert, unnatürlich klingen, ist Björn Schmelzer eine sehr selbstverständliche Interpretation gelungen, die kontemplive Qualitäten ebenso berücksichtigt, wie die monumentale Mächtigkeit und rethorische Kraft des Werkes. Und nicht zuletzt werden jene Züge Ockeghemscher Kirchenmusik erlebbar, die Györgi Ligeti zu seinen Kontinuumskompositionen inspiriert haben mögen.

Friedrich Hausen
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